Samstag, 4. Oktober 2014

Stuttgarter Nachrichten - Anne Abelein


Performance in Stuttgart-Ost Grenzgängerin der Künste

Von Anne Abelein 
Szene aus eine Performance von Ninel Cam Foto: Yakup Zeyrek
Szene aus eine Performance von Ninel CamFoto: Yakup Zeyrek
Sie ist Tänzerin, Sängerin, studierte Architektin. So selbstverständlich wie die Performerin Ninel Çam über die Grenzen der Künste spaziert, ist sie in verschiedenen Kulturen zu Hause. Was bedeutet der Wechsel von einer Gemeinschaft in die andere? Das fragt Ninel Çam am Samstag im Ost mit ihrer Performance „Ich taufe mich Europa“.
Sie ist Tänzerin, Sängerin, studierte Architektin. So selbstverständlich wie die Performerin Ninel Çam über die Grenzen der Künste spaziert, ist sie in verschiedenen Kulturen zu Hause. Was bedeutet der Wechsel von einer Gemeinschaft in die andere? Das fragt Ninel Çam am Samstag im Ost mit ihrer Performance „Ich taufe mich Europa“.


Stuttgart - Wer Europäer werden will, braucht erst einmal eine Taufe. Zumindest in der Tanzperformance von Ninel Çam ist das so. An diesem Samstag zeigt die Stuttgarter Allround-Künstlerin ihre Produktion „Ich taufe mich Europa“ in einer neuen Fassung im Ost, der neuen Spielstätte der freien Szene im ehemaligen Straßenbahndepot im Osten.
In ihrem Stück, das sie vor einem Jahr im Württembergischen Kunstverein aus der Taufe hob, setzt sich die umtriebige Tänzerin und Choreografin mit dem symbolischen Akt der Taufe auseinander. Und fragt: Inwieweit muss sich der Täufling den Regeln der neuen Gemeinschaft anpassen? Gewinnt er eine andere Identität? Kann man sich eigentlich selbst taufen? Bei der Performance macht sich Ninel Çam mit einem Bündel von Luftballons in der Hand, die leicht, hell und stellvertretend für alle Utopien und Hoffnungen über ihr schweben, mit verbundenen Augen auf den Weg von draußen nach drinnen und will es herausfinden. Eine Recherche, die sie dann im Theaterraum fortsetzt. Die Zuschauer erwartet ein ungewöhnlicher Mix aus Performance, Aktionskunst, Tanz und Schauspiel. Das ist der Normalfall im Werk der quirligen Künstlerin, die auch Mutter eines achtjährigen Sohns und in fast allen künstlerischen Sparten zu Hause ist: Ninel Çam ist Choreografin, aber auch Sängerin, Tänzerin und promovierende Wissenschaftlerin. Ähnlich flexibel und offen für Neues ist sie bei der Wahl ihrer Wohnorte. Ninel Çam wuchs in der Türkei in einer Lehrerfamilie auf, die häufig umzog; ausgebildet wurde sie an einem Eliteinternat in Ankara. Später lebte sie unter anderem in Helsinki, Paris und Nancy. „Mit 21 Jahren hatte ich in 21 verschiedenen Wohnungen gewohnt“, sagt die Künstlerin, die ihre Reden mit lebhaften Gesten begleitet. „Ich suche mich jedes Mal neu“, begründet sie ihre unbändige Reiselust.

1998 kam sie nach Stuttgart – ein Lehrauftrag an der Fakultät für Architektur und ein Stipendium lockten. Ihre tänzerischen Wurzeln finden sich im Ausdruckstanz, im zeitgenössischem Tanz und im Butoh. Den Tanz verband sie mit ihrem Architekturstudium: Ninel Çams Diplomarbeit war eine Tanzperformance: „Gedichte eines Körpers im Raum“. Nun promoviert sie; das Thema ihrer Dissertation an der Aalto Universität in Helsinki lautet „Spacial Thinking with the Moving Body“. Darin untersucht sie, wie Tanzgruppen gemeinsam kreativ werden und Blockaden und soziale Konventionen überwinden können.

Ein Markenzeichen ihrer Arbeit ist die Partizipation. Ein typisches Ninel-Çam-Projekt sieht zum Beispiel so aus: Die Künstlerin steht im öffentlichen Raum in einem markierten Kreis und bietet an, mit den Passanten Stehblues zu tanzen. „So kann ich Kontakt zu Menschen finden, zu denen ich sonst keinen Zugang hätte“, sagt Ninel Çam, die bei dieser Aktion mit Kindern wie mit Senioren tanzte. Oder sie sammelt Pfandflaschen in der Stadt, um auf die prekäre Situation vieler Künstler hinzuweisen. Parallel zu ihren vielgestaltigen Projekten hat Çam ihre Gesangskarriere vorangetrieben: Sie vertonte mit Duos und Trios Liebeslieder und andere Dichtungen, wobei sie Orient und Okzident verbindet. Mit ihrer Band Kent Masali improvisiert sie und kreiert urbane Songs mit Elementen aus Jazz, Rock, Elektronik und arabischer Musik.

Ihre musikalischen Projekte sieht sie nie als abgeschlossen an, sie können immer erweitert werden. „Ich möchte fragmentiert arbeiten“, sagt Çam. Ähnlich verhält es sich mit ihren Tanzperformances. Das Publikum kann sogar mitwirken, denn nach den Aufführungen bietet Ninel Çam Treffen an. „Die Zuschauer beeinflussen das nächste Stück“, sagt sie und zitiert Heraklit. „Alles ist im Fluss“, das gilt für ihre künstlerische Arbeit ebenso wie für die vielen Ortswechsel. Und wie kommt sie zwischendrin zur Ruhe? Erholung finde sie bei nächtlichen Meditationen im Sitzen und Gehen, erzählt die Künstlerin. Auch „Ich taufe mich Europa“ ist noch im Fluss: als Teil von Çams Trilogie „Nacktgestellt“, die sich um die vielen, Schichten, Rollen und Hüllen der Menschen im Leben dreht. Im letzten Teil wird es um die weibliche Sexualität gehen, verrät Ninel Çam.
An diesem Samstag ist die Performance „Ich taufe mich Europa“ um 19.30 Uhr im Ost (Landhausstraße 188/1) zu sehen. Karten unter 83 88 28 43.