Montag, 24. September 2012

MIS À NU - Presse



Schicht um Schicht zum innersten Kern vordringen

Kornwestheim/ Stuttgart In der Tanz-Performance “nacktgestellt” macht sich Ninel Çam auf eine Reise zu sich selbst. Von Birgit Kiefer

Wie viel von dem, was ich bin, bin wirklich ich? Wie viel von mir ist fremdbestimmt? Was ist die Essenz meines Ichs? Wer bin ich überhaupt? Diesen Fragen hat Ninel Çam im Treffpunkt Rotebühlplatz tanzend und erzählend nachgespürt. Und obwohl sie wie beim Schälen einer Zwiebel, Schicht um Schicht, sich dem innersten Kern näherte: Letztlich gibt es keine definitive Antwort. Sich auf die Reise zu machen lohnt sich dennoch, zeigt die Künstlerin in ihrer Tanz-Performance “nacktgestellt” - und sei es nur, um sich bewusst zu werden, dass wir in ein Korsett aus Rollen gezwungen sind und dass wir so manche Hülle ablegen können.

Wie eine Marionette, deren Marionettenspieler da oben willkürlich am Fadenkreuz reißt, vielleicht gelangweilt oder zornig. Die Hände der Choreographin und Tänzerin fahren in die Höhe, die Glieder von Çam zucken auf der Bühne. Dich in mehrere Schichten von Kleidung gehüllt, mit Schleier, der ihr immer wieder vors Gesicht rutscht, schleudert es die zarte lockige Frau zwischen Bergen von Röcken, Jacken, Schals und Tüchern über die Bühne. Das ist sie nicht. Nicht sie entscheidet, wohin es sie treibt. Sie wehrt sich, trennt sich von ihrer Rolle, wirft eine Schicht Kleidung ab. Sie ist aber auch nicht sie selbst, als sie wie eine Geschäftsfrau über die Dielen stolziert, herrisch und doch nach Beifall heischend und ängstlich auf die Reaktionen ihres Publikums schielend. Einmal nach mehreren Häutungen scheint sie einen kurzen Augenblick bei sich angekommen: Sie hat ein Kind zur Welt gebracht und schwebt auf Wolken – nur um doch wieder ins Grübeln zu geraden. Während sie neben dem Kind liegt, beginnt die hand mechanisch auf den Boden zu klopfen.

Wer also ist Ninel Çam? Im Treffpunkt erzählt die Mutter eines sechsjährigen Sohnes, die inzwischen in Kornwestheim wohnt, auch aus ihrem Leben. Von ihrer Herkunft aus Ostanatolien, wo sie als Elfjährige ein Polizist vom Fahrrad holte und fragte, ob sie sich nicht schäme in ihrem Alter auf dem Sattel zu sitzen. Von ihrem Großvater, der ein großartiger Semah-Tänzer gewesen ist, und ihrer Großmutter, die der Enkelin mit dem Unterrock den Rotz von der Nase putzte. Und von ihrer andren Großmutter, die als Analphabetin allein fünf Kinder großzog, das Lesen lernte, begann Tagebuch zu schreiben und Arien von Maria Callas liebte.

Çam berichtet von ihrem Verhältnis zu jenem Ort, an dem sie aufwuchst und den sie liebt, zu dem es für sie aber kein Zurück gibt. Es ist eine Geschichte von Liebe und Ablehnung. Liebe zur Familie, in deren Schoß sich die junge Ninel wohl fühlt, und Ablehnung der Traditionen und Reglementierungen, die Frauen daran hindern, sie selbst zu sein. „Mein Instinkt führte mich immer nach Westen, das zählt die Frau etwas“. Aber auch dort angekommen hast sie eine Rolle, die die „Türkin“ oder Repräsentantin einer „binationalen Ehe“. Nach einem Studium in Istanbul, Frankreich und Deutschland arbeitetet sie heute an ihrer Promotion in Helsinki.

In der Türkei habe sie als Jugendliche viel gelesen, so Çam, nur noch in kurzem schwarzem Kleid dem Publikum gegenüber sitzend. Aber später habe sie erfahren, dass viele der von ihr verehrten Autoren verhaftet, gefoltert oder auf offener Straße getötet wurden. Das ist nicht ihre Welt. Si tanzt zu Callas's Stimme, aber „auch das bin ich nicht“. „Du wirst dich erkälten“, warnt die Mutter warm und freundlich aus dem Off, als Çam daran geht, die letzten Hüllen abzulegen. Sie tut es trotzdem.

Rollen zwängen den Menschen ein wie Kleider. Wie diese lassen sie sich aber ablegen, zeigt Ninel Çam in “nacktgestellt”. Foto: Solveig Puttrich



„Arkadaş“ ist ein poetischer Begriff. Er bedeutet auf Türkisch Freund. Das Wort setzt sich zusammen aus „Arka“, dem Rücken, und „das“, dem Begriff für zusammen, gemeinsam. Ein Freund ist im Türkischen  also jemand, mit dem man Rücken an Rücken steht, dem man den Rücken in seiner ganzen Verletzlichkeit zuwenden kann. Hinten hat niemand Augen, ein Angriff könnte nicht abgewehrt werden. Wer seinem Mitmenschen den bloßen Rücken   darbietet, liefert sich aus. Ninel Çam tut es. In ihrer Performance „nacktgestellt“ legt sie alle Schutzschichten ab, eine nach der anderen. „So offenbart habe ich mich noch nie“, sagt die seit zwei Jahren in Kornwestheim lebende  Tänzerin, Künstlerin,  Choreografin.  Am morgigen Donnerstag wird sie ab 20 Uhr im Stuttgarter Treffpunkt Rotebühlplatz, im Robert-Bosch-Saal, radikal ihr Innerstes nach außen kehren.
„Ich glaube, wir alle nehmen Rollen auf uns, so wie wir Kleider anziehen. Für die Arbeit, die Schule, als Mutter“, beschreibt  Ninel Çam. „Immer wenn ich mir bewusst wurde, etwas ist nur eine Rolle, habe ich versucht, mich davon zu distanzieren.“ Dieser Prozess ist im Rotebühlzentrum hautnah mitzuerleben. Die Künstlerin beginnt ihren Auftritt unter mehreren Schichten von Kleidung, sie spielt – tanzend und singend – eine Rolle, bis sie ihrer überdrüssig wird,  sich der schützenden Hülle entledigt. Nur kommt darunter ja die nächste Schicht, auch sie engt wieder ein, wird dem Menschen nicht gerecht, auch sie wird fallen und so geht es in der Performance immer weiter, bis Çam „nacktgestellt“ ist. Wehrlos. Die Tänzerin sagt: „Ich will, dass das Leben mein Freund ist, ich will mich nicht immer schützen müssen.“ Sie öffnet sich dem Publikum von ihrer verletzlichsten Seite.
Tanzen ist für die aus der Türkei stammende Künstlerin Kommunizieren. Sie mache den ersten Schritt, versuche ihren Gefühlen einen Ausdruck zu geben. Tanzen ist für Çam aber auch  ein Mittel, das Leben zu bewältigen. „Leben ist nicht nur Alltag“, ruft sie in Erinnerung und schüttelt abwehrend den schwarzen Lockenkopf. Nur wie ein Schaf  durchs Leben zu gehen, das reiche ihr nicht.  Und ohne Tanzen kann sie sich Leben nicht vorstellen. Dann gibt sie schon lieber das Singen auf. Auftritte ihrer Band  Kent Masali gibt es derzeit nicht. Die Mutter eines sechsjährigen Sohnes konzentriert sich auf ihre familiäre Rolle und ihre Promotion. Statt eines Doktorvaters hat die Kornwestheimerin zwei Doktormütter gefunden, allerdings in Helsinki an der Aalto Universität.  Ihre Arbeit bewegt sich zwischen Architektur und Tanz. Ein interdisziplinärer Ansatz, der nicht viele Vorgänger hat. Titel ihre Promotionsarbeit:  „Spacial Thinking with the Moving Body“, darin untersucht sie  die Wechselwirkung von Bewegung des Leibes und erlebte, erfahrene, wahrgenommene Räume. „Mich interessiert, was passiert mit den Menschen wenn sie tanzen, was passiert in einer Gruppe wenn Menschen miteinander tanzen.“ Auch für ihre Diplomarbeit im Fach Architektur hat Çam mit einer Tanzperformance das Thema Raum dargestellt. 
Mit Jazztanz hat sie im Alter von acht Jahren angefangen. Noch in Ostanatolien, wo sie in Malatya aufgewachsen ist. Folklore, Ausdruckstanz, Butoh (ein zeitgenössischer japanischer Tanz) folgten. „Heute ist all das miteinander verwoben“, so Çam.  Sie stammt aus einer Lehrerfamilie, und weil ihr Vater einige Jahre in Deutschland türkische Kinder unterrichtete, verbrachte auch sie schon fünf Jahre als Jugendliche in Deutschland. Zum Studium ging sie nach Istanbul, nach Frankreich und nach Stuttgart.  Im Produktionszentrum Tanz und Performance in Feuerbach  bietet sie Workshops für Studenten an.  
Kunst sei ein Mittel, um das Leben zu verdauen und Tanz eine wunderbare Kunstrichtung, schwärmt Çam.  Mit „nacktgestellt“ greift sie einige ihrer Lebensstationen auf, wie ihre Herkunft aus  der Türkei oder ihre Mutterschaft. Viel mehr will sie allerdings nicht verraten. „Sonst geht der Zauber verloren“, fürchtet sie. Wer die Performerin morgen verpasst, kann sie auch am Sonntag um 19 Uhr in Weil der Stadt im Klösterle in „Sarah“, einer Erzählung in Worten, Klängen, Gesang und Tanz, erleben. Am Samstag, 8. Dezember,  wird „Sarah“ im Lindenmuseum aufgeführt. 








Zwischen Kopftuch und Adamskostüm     
                                                       von Anna Knöller:

Die türkischstämmige Künstlerin Ninel Çam begibt sich mit ihrer Performance „MIS À NU“ in ein kulturelles Spannungsfeld. Nacktheit ist im zeitgenössischen Tanz längst keine Seltenheit mehr und schnell fühlt sich das Publikum provoziert, wie sehen da wohl die Reaktionen aus, wenn sich eine Türkin nackt präsentiert?

In einer Vielzahl von Kleidungsstücken eingepackt beginnt die Suche nach dem Wesentlichen:
„Kleider sind Rollen(-spiele). Hüllen sind aufgesetzte Muster. Was bin ich? Wen spiele ich?“
Ist es die liebende Mutter, die Tochter und Enkelin in einer traditionsbewussten Familie oder doch eher die weibliche Karrierefrau mit männlicher Härte? Oder eben doch alles auf einmal?
In ihrer Solo Tanzperformance lässt Ninel Çam uns an der Suche teilhaben und nimmt uns mit auf eine Reise zu sich selbst.

Während  Kontroversen aufeinander treffen, wandelt sich die Suche zum Befreiungsakt und mit der Kleidung werden gespielte Rollen wie aufgesetzte Masken abgelegt.
So kommt in Verschmelzung aus Tanz, Gesang und Sprache der kulturelle Aspekt sowohl als Wandel zur Selbstbestimmung als auch Integration zum Ausdruck.
Bis frau am Ursprung angekommen ist. Ungeschminkt und nackt. 

//

Eine Solo Tanzperformance, eine Reise, die wir nicht verpassen sollten, die die Integration von den 'Anderen' uns so sehr wünschen. Denn das gegenseitige Kennenlernen ist die Verantwortung von uns Allem, die eine harmonische Zusammenleben streben. Eine Türkin spricht mit den Worten der zeitgenössischer Tanz, was ein Rarität in unsere Gesellschaft ist, sie spricht nicht mit der Folklore, mit Exotismus oder mit der weiten Vergangenheit, sie spricht von sich, von jetzt, von hier. Noch ein Grund eine besondere Aufmerksamkeit auf diese Veranstaltung zu schenken.