Dienstag, 1. Mai 2012

< ICH, STUTTGART > Begegnung der Kulturen - Monika Unkelbach

                                                                            Photo: Frank Fierke



Wenn viele Ichs zum Wir werden

Im Stück „Ich Stuttgart“ zeigen Künstler aus zehn Nationen im Haus der Geschichte Baden-Württemberg ihre ganz persönliche Sicht auf die Stadt.

Einzelne Fragmente, die am Ende ein großes gemeinsames Ganzes bilden: das charakterisiert das Stück „Ich, Stuttgart“ wohl am besten. Die beiden Kuratorinnen Ninel Çam und Natasha López haben Studierende des Studios für Stimmkunst und des Neuen Musiktheaters der Musikhochschule Stuttgart sowie in Stuttgart lebende freischaffende Künstler für das Projekt gewonnen. Und mit dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg haben sie eine außergewöhnliche Bühne gefunden, auf der die Mitwirkenden – auf ganz unterschiedliche Art und Weise – ihren Bezug, ihre Sicht, ihr Erleben der Stadt darstellen. Das Ergebnis der Konzeption ist ein Parcours, der nicht nur durch die verschiedenen Räume des Museums führt, sondern auch durch unterschiedliche Darstellungsformen und Lebenswelten. Bei der Uraufführung am 3. Mai sowie bei zwei weiteren Terminen, können Zuschauer ein Teil des Ganzen werden und erleben, wie selbstverständlich das Ich zum Wir verschmelzen kann.


Die junge Frau fühlt sich nicht glücklich in Stuttgart, wo sie erst seit kurzem lebt. Sie studiert neuen Gesang an der Musikhochschule und Singen ist Teil ihres Lebens. An einem Tag im Frühling kauft sie ein Fahrrad, genießt das los gelöst sein der Bewegung und singt. Anders als beim Laufen ist sie auf dem Fahrrad isoliert und dadurch beschützt. Ihr Gesang streift die Menschen, denen sie begegnet nur einen Augenblick lang. Er weckt in manchen vielleicht die Sehnsucht nach mehr, für die anderen ist er nicht störend, er weht vorüber wie andere Geräusche des Alltags. Für die junge Frau ist der Gesang befreiend und schenkt ihr das Glück, das sie so vermisst hat. Dies ist nur eine der Geschichten, die im Stück „Ich Stuttgart“ erzählt und dargestellt werden. Für Ninel Çam und Natasha López – die junge Frau mit dem Fahrrad – war sie die Initialzündung für ein Projekt, das im Laufe der Zeit eine beeindruckende Eigendynamik entwickelt hat.


Schauspielerinnen und Schauspieler aus zehn Nationen stellen in einem ursprünglich dreißig Minuten und mittlerweile eineinhalb Stunden dauernden Parcours, mit Gesang, Erzählungen, Tanz und Musik ihr Verhältnis zu der Stadt dar, in der sie leben. Die Zuschauer folgen ihnen durch unterschiedliche Räume des Museums und erleben ganz individuelle Antworten auf Fragen wie: was schätze ich an Stuttgart? Wie erlebe ich die Stadt? Was fehlt mir hier? Wonach sehne ich mich? Vorgaben durch die Kuratorinnen gab es für die Künstler keine. Sie ließen jedem ein Höchstmaß an Freiheit bei der Wahl seiner Geschichte, des Aufführungsraumes und der Darstellungsform. „In unserem Stück spielt jeder eine Hauptrolle. Jeder ist Protagonist und gleichzeitig Zuschauer. Es ist ein Geben und Nehmen und so verschieden die einzelnen Erzählungen und ihre Umsetzung auch sind, Bühne und Thema verbinden sie zu einer kollektiven Darstellung von Sehnsucht, Erwartungen, der Suche nach Glück und Liebe“, erzählt Natasha López, in Südafrika geborene Spanierin, die seit einem Jahr in Stuttgart lebt. Dabei stehen für Ninel und Natasha nicht Nationen im Vordergrund, sondern Persönlichkeiten. „Unabhängig davon ob ein Künstler seine Wurzeln in den USA, in Spanien, Syrien, Dänemark, Italien oder Deutschland hat, wir sind alle auf der Suche nach Netzwerken, die uns stützen und trotz aller Individualität auch nach Gemeinsamkeiten, die uns verbinden“, sind sich Ninel Çam und Natasha López einig. Künstlern auf der Bühne eine gemeinsame Plattform zu geben und eine Verbindung zu schaffen zwischen Kunst und Institution, darin sehen die beiden Initiatorinnen auch den größten Reiz ihres Projekts.


Für sie war es ein Glücksfall, dass Angelika Lutz, Natashas Gesangslehrerin für neue Musik an der Musikhochschule Stuttgart, es den beiden Künstlerinnen ermöglichte, ihr Konzept im Haus der Geschichte Baden-Württemberg aufzuführen. Ninel Çam, geboren in der Türkei und seit 1998 in Deutschland lebend, ist Mitglied des Feuerbacher Produktionszentrums Tanz und Performance e. V. und wünscht sich mehr Chancen, Institutionen und Kulturschaffende einander näher zu bringen. „Ich bin davon überzeugt, dass zeitgenössische Kunst museale Räume auf ganz einzigartige Weise beleben kann. Institutionen müssen im Fluss bleiben, um nicht zu erstarren und dass dies mit der Kreativität, Dynamik und den visionären Perspektiven von Künstlern gelingen kann, möchten wir mit unserem Stück deutlich machen“, erklärt sie.


Mit Start der Spielzeit 2011/2012 haben sich die Stuttgarter freien Tanz- und Theaterschaffenden unter dem Namen „teilchenbeschleuniger“ zusammengeschlossen. Die Initiatoren, das Produktionszentrum Tanz- und Performance e.V und Freie Theater Stuttgart e.V. wollen hier freischaffenden Künstlern aus Stuttgart die Gelegenheit geben, Synergien zu nutzen. Mit dem Stück „Ich Stuttgart“, so hoffen sie, werden sie neben ihren Zuschauern auch weitere Künstler und Institutionen für ein kreatives Wir begeistern können.

                                                         Monika Unkelbach/ Begegnung der Kulturen