Donnerstag, 20. Juli 2006

NINEL ÇAM / Urbanum


Interview mit Frau K. Ninel Çam

Frage:
Sie waren fünf Jahre alt, als Sie das erste Mal nach Deutschland kamen. Ihr Vater war fünf Jahre Lehrer in Roth bei Nürnberg. Sie gingen dann zurück in die Türkei und kamen erst 14 Jahre später erneut nach Deutschland. Was war Ihr stärkster erster Eindruck?



Antwort von K. Ninel Cam
Ja, nach vierzehn Jahren kam ich zurück für mein Studium nach Deutschland. Ich bin zuerst nach Roth gefahren, habe Freundinnen aus der Grundschulzeit getroffen und meinen Lehrer im Altersheim besucht. Mit dem Fahrrad bin ich die Strecken gefahren, die damals meine ganze Welt waren.
Unsere Wohnung von früher erschien mir nicht mehr so hoch, der Weg zur Schule war nicht mehr so weit. Der Teil des Schulweges, an dem ich immer Probleme mit den Rollschuhen hatte, war nicht mehr so steil. Der Platz an dem ich zum ersten Mal mit Stolz mein Fahrrad abgeschlossen habe, der Weg an dem wir Kinder einen kleinen Flohmarkt veranstaltet haben, der Sandkasten in dem ich Eidechseneier gefunden habe, der Balkon, von dem aus meine Mutter an heißen Sommertagen Wasser auf meine Spielkameraden und mich geschüttet hat … Alles was gleich blieb und was sich geändert hat. All die Kindheitserinnerungen wieder zum Leben zu erwecken, war für mich ein besonderes Erlebnis, weil nach 14 Jahren in der Türkei die Zeit in Deutschland nur noch wie ein Traum erschien.




Frage:
Mit was würden Sie Ihren neuen Aufenthalt in Deutschland symbolisieren?



Antwort von K. Ninel Cam
Meine Entscheidung allein in Deutschland zu leben, ohne Familie, war für mich das Symbol für ‚Erwachsen sein’. Ich musste zwar auf meinen eigenen Beinen stehen, was nicht leicht war, doch durfte ich mit meinen Flügeln fliegen, was ich mir als das Allerschönste vorstellte. Deutschland war für mich das Land, das diese Freiheit symbolisiert.
Ich weiß noch ganz genau, dass ich damals schon unbedingt in Deutschland bleiben wollte, als meine Eltern meiner Schwester und mir mitgeteilt hatten, dass wir in die Türkei zurückgehen werden. Ich musste damals an den Pfarrer denken. Der katholische Pfarrer im Religionsunterricht in der Grundschule spielte jedes Mal mit den Kindern ein Spiel, wenn ich im Unterricht dabei gewesen bin. Deswegen wollten meine Mitschüler immer, dass ich mit am katholischen Religionsunterricht teilnehme. Ich durfte für die Klasse türkische Lieder singen, denen der Religionslehrer mit einem hohen Respekt begegnet ist. Dies war für mich eine Ehre! Ich hatte damals, ungefähr 10 Jahre alt, meinen Eltern sogar angeboten, dass sie mich bei dem Pfarrer und den Nonnen zurücklassen und ins Internat schicken können! Sie könnten mich doch immer besuchen! Natürlich sind sie darauf nicht eingegangen.




Frage:
Hatten Sie das Gefühl, dass die Universität Stuttgart sich gefreut hat, dass Sie gekommen sind?



Antwort von K. Ninel Cam
Sicher hat sie sich mehr gefreut, als Deutschland selbst. Mit anderen Worten: Deutschland wusste noch nicht, dass es sich auf mich sehr freuen wird. Obwohl ich Anfang Oktober 1997 die Zulassung für das Studium von der Universität Stuttgart bekommen hatte, ist es mir nicht gelungen, vor dem 21. Januar 1998 das Visum für Deutschland zu bekommen. Mehr als drei Monate habe ich auf das Visum gewartet, ohne herausfinden zu können, wo das Problem lag. Türen können sich sehr leicht zu Wänden verwandeln. Und ich habe in dieser Zeit Tag für Tag gehofft, mit der nächsten Post die Papiere zu erhalten. Die Formalitäten waren damals viel schwieriger, als anfangs gedacht. Wenn ich vergleiche, ein Bekannter aus England, der an der türkischen Grenze ankam und merkte, dass er seinen Pass vergessen hatte, konnte seinen Urlaub in der Türkei durch Vorlegen seines Studentenausweises doch realisieren. Ich konnte wegen Verzögerungen mit dem Visum mein Studium letztlich erst ein Semester später beginnen. Danach … danach war’s schön. Zwar ist die Kälte für ein Kind vom Mittelmeer immer eine Herausforderung. Und die ein ‚bissele’ anonymere Universitätsatmosphäre hilft anfangs nicht, sich leicht zu Hause zu fühlen. Doch die Universität hatte Einiges, nach dem ich mich sehnte.




Frage:
Wie kamen Sie dann zur Musik?



Antwort von K. Ninel Cam
Musik und Tanz waren immer unverzichtbare Teile meines Lebens, mit denen ich in irgendeiner Form in Berührung sein musste. Das erste größere Projekt hier in Stuttgart entstand dann durch einen glücklichen Zufall. Es war ein Nachmittag vor fast drei Jahren, an dem ein Freund mich zu seinem Geburtstagsessen bei Alimentari da Loretta eingeladen hat. (Loretta ist eine italienische Köchin.) Ich hatte keine Zeit ein Geschenk zu kaufen, und ihm deshalb ein Lied gesungen. Loretta hat mich gleich gefragt, wo ich singe. Ich meinte „zu Hause“. Wir haben uns dann länger unterhalten und sie schlug vor, dass ich regelmäßig in ihrem Lokal auftreten könne. Sie hat mich mit der russischen Pianistin Irina Gelfand bekannt gemacht. Ich hatte keine Ahnung, wie die traditionellen aserbaidschanischen und anatolische Liebeslieder, die ich singen wollte, mit Klavierbegleitung klingen würden. Irina war anfangs genau so skeptisch wie ich. Doch die Lieder haben in ihr etwas berührt, so dass wir gesagt haben, wir lassen uns auf dieses Projekt ein. Und es hat funktioniert. Vielleicht ein bisschen langsamer als bei einer konventionellen, musikalischen Begegnung. Doch Schritt für Schritt, Lied für Lied merkten wir, dass wir uns richtig entschieden hatten.




Frage:
Und wann haben Sie ‚Ninel Cam Trio’ gegründet?



Antwort von K. Ninel Cam
Bei ‚Jazz a la Turca’, im Rahmen des ‚Sommerfestivals der Kulturen 2003’ hatten wir mit dem Gitarristen Uwe Metzler und dem Flötisten Charles Davis einen ersten, sehr spontanen Auftritt. Es war eine sehr glückliche Begegnung, bei der wir spürten, dass unsere ‚Energien’ sich ergänzen ... Daraus entstand dann schnell unser Trio mit Uwe.




Frage:
Und wie entstand ‚KENT MASALI’?



Antwort von K. Ninel Cam
Wieder „ein glücklicher Zufall“, wie ich sie oft in meinem Leben spüre. Maiky Mai, ein Gitarrist, der aber in unserer Besetzung Oud –arabische Laute- und Tabla spielt, war mit seiner Oud auf meiner Abschiedsparty im Max-Kade-Studentenwohnheim. Gegen Mitternacht haben wir losgelegt, frei improvisiert und dabei bemerkt, dass wir unbedingt etwas zusammen machen sollten. Er meinte, dass er sich öfters mit Thomas Maos zum ‚Jammen’ trifft, ich sollte mal mitkommen. Wir haben uns in Tübingen getroffen. Elektrogitarre, Oud oder Tabla und Gesang. Es war unglaublich. Sehr aufregend. Im wahrsten Sinne eine musikalische Reise. Ein paar Stunden haben wir ohne Pause musiziert. Dann wussten wir, dass wir uns noch einmal treffen müssen. Dann noch einmal… bis es KENT MASALI hieß. Was so etwas wie ‚Märchen aus der Stadt’ bedeutet.




Frage:
Unter welcher Stilrichtung kann man Ihre Musik einordnen?



Antwort von K. Ninel Cam
Keine Ahnung. Wenn ich unsere CD in einem Plattenladen suchen müsste, würde ich bei der Weltmusik nachschauen. Obwohl … vielleicht ist es doch nicht der passende Begriff, weil man damit nichts verbindet, was rockt und groovt. Wie würden die Jungs, die auch Musiklehrer sind, uns wohl einordnen? Ethno-Jazz, Elektro-Ethno-Jazz vielleicht. „Fragmente aus E-E-E Musik“ würde ich sagen(!).




Frage:
Was bedeutet E-E-E Musik?




Antwort von K. Ninel Cam
Ethno –Elektro – Experimental Musik!




Frage:
Welche Rolle spielt denn diese Stilrichtung des Jazz in der Türkei selbst?



Antwort von K. Ninel Cam
Jazz kommt ursprünglich aus dem Underground. Aber in der Türkei ist es eher die Eliteschicht, die Jazz produziert und hört. Und das auf einem ziemlich hohen Niveau. Es gibt einige Jazzfestivals in der Türkei, die sehr beliebt sind. Doch ich finde es schade, dass der Underground, der Alltag, sein Ausdrucksmittel, seinen Jazz verloren hat. Ich liebe es, wenn Musik und Alltag ineinander drängen.




Frage:
Wissen die Deutschen eigentlich, dass in der Türkei so eine starke Jazz-Szene existiert?



Antwort von K. Ninel Cam
Wie sollten sie es wissen? Die Musikszene ist sehr dynamisch. Wenn man nicht in einem engen Kontakt zueinender steht, verpasst man Einiges. Mir selbst ist es erst mit ‚Jazz a la Turca’ bewusst geworden, dass man in dieser Beziehung voneinander wenig weiß.




Frage:
Worin sehen Sie den größten Zugewinn für die Entwicklung der Musik hier in Deutschland durch die Begegnung mit Musikeinflüssen aus verschiedenen Regionen der Welt?



Antwort von K. Ninel Cam
Alle Begegnungen haben das Potential, in das Ganze einen neuen Moment einzubringen, einen Impuls zu geben. Was statisch ist oder statisch scheint, kann durch diesen Impuls anfangen zu wirbeln. Eine Dynamik, die Reichtum birgt, kann in Bewegung gesetzt werden.




Frage:
Was ist für Sie Heimat? Ein schönes deutsches Wort, ich weiß gar nicht ob es ins Türkische übersetzt werden kann.



Antwort von K. Ninel Cam
Ich glaube, Heimat heißt auf türkisch „vatan“, „memleket“ oder vielleicht sogar „yurt“. Bei dem ersten ist die nationale, geographische Bindung stärker, bei dem zweiten die kulturelle, regionale und bei dem dritten das Abstrakte, Geistige. Wenn ich es als das Gefühl von „zu Hause sein“ verstehen sollte ... dann wäre es für mich, wo ich ‚Ich’ bin, wo ich ohne wenn und aber ‚Ich’ sein darf. Wo ich mich frei entfalten kann. Wo ich in mir und um mich Liebe spüre.




Frage:
Wie finden Sie die Zeitschrift „Begegnung der Kulturen“?



Antwort von K. Ninel Cam
Ich finde sie sehr schön. Die Titelseite ist so verlockend. So herzlich, so bunt. Sie gibt das Gefühl, dass alles, was warm ist in Stuttgart, da drin ist. Für mich sind die Berichte und Informationen der Zeitschrift ein echter Anreiz, Veranstaltungen mit anderen Kultur-Hintergründen zu besuchen.